Indienststellung der Titanic: 1911

von Günter Bäbler

Viele Titanicer wissen, dass die Titanic – bedingt durch die Kollision zwischen der Olympic und der Hawke – eine Verspätung von drei Wochen hatte. Eher unbekannt ist die Tatsache, dass die Titanic einen viel grösseren Verzug hatte, nämlich 30 Wochen. Ihre Jungfernfahrt war ursprünglich auf Frühherbst 1911 geplant.

Schon mit den ersten Publikationen über die neuen Dampfer der Olympic-Class liess die White Star Line keinen Zweifel daran, dass die Olympic den prestigeträchtigen Flottenzuwachs symbolisieren sollte. Die Titanic sollte als zweites Schiff dieser Klasse im Schatten der Olympic über den Atlantik dampfen. Auch das Filmteam, das regelmässig die Werft besuchte, fand nie einen Anlass, die Titanic mitzufilmen, diese war höchstens eine Kopie der Haupt-Attraktion. Selbst der Fotograf von Harland & Wolff hielt die Titanic nur dann im Bild fest, wenn sie sich vom Design der Olympic unterschied oder er bemerkte, dass er zuvor einen Bauabschnitt der Olympic nicht dokumentiert hatte.

Die Olympic wuchs bereits gegen den Himmel, als die Arbeiter von Harland & Wolff nach drei Monaten und einer Woche den Kiel der Titanic legten. Logistisch machte es durchaus Sinn, die Schiffe zeitversetzt zu bauen, denn so konnten aus den Anfangsschwierigkeiten Lehren gezogen werden. Der Bau der Nummer 2 war viel effizienter.

Die beiden Riesendampfer nahmen Seite an Seite Form an, bis am 20. Oktober 1910 der grosse Tag der Olympic kam und sie zum ersten Mal ihrem Element anvertraut wurde. Sowohl für Harland & Wolff wie auch für die White Star Line war dies ein äusserst wichtiger Tag. Die Presse schenkte der Olympic viel Beachtung, als sie nach rund acht Jahren Planung (vgl. TiPo 32) als grösstes Schiff der Welt vom Stapel lief. Die White Star Line überreichte den geladenen Gästen ein 28-seitiges Heft als Souvenir an den besonderen Tag. Der Leser erfuhr, dass nur wenige Jahre zuvor ein solches Schiff höchstens bei „Alice im Wunderland“ hätte fahren können. Das Heft gibt Auskunft über den Bau der Olympic und erwähnt auf Seite 17 zum ersten Mal die Titanic.

Doch wie weit war der Bau der Titanic fortgeschritten, als die Olympic vom Stapel lief? Die untenstehende Tabelle zeigt, dass am Tag vor dem Stapellauf der Olympic alle Rumpfplatten der Titanic an ihren Positionen waren. Aber es wird auch deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt die Titanic nicht mehr 14 Wochen im Rückstand zur Olympic war, sondern bereits ganze 27 Wochen.

Olympic, Dauer in Wochen (Datum Fertigstellung) Titanic, Dauer in Wochen (Datum Fertigstellung) Rückstand der Titanic  (in Wochen)
Kiellegung 0     (16   Dez. 1908) 0    (22 März 1909) 14*
Doppelboden 12   (10 März 1909) 8    (15 Mai 1909) 9
Spanten 48   (20 Nov. 1909) 54     (6 April 1910) 20
Beplankung 69   (15 April 1910) 82   (19 Okt. 1910) 27
Stapellauf 96   (20 Okt. 1910) 114 (31 Mai 1911) 32
Übergabe an WSL 128 (31 Mai 1911) 158  (2 April 1912) 44

*Alle Zahlen auf ganze Wochen gerundet.

Beim Betrachten dieser Zahlen glaubt man zu erkennen, dass die Arbeiten auf die Olympic konzentriert wurden, weil sie das Prestigeobjekt war und Gegenstand der Aufmerksamkeit der Presse. Das edle Büchlein zum Stapellauf der Olympic gibt keinerlei Hinweise darauf, wann die beiden neuen Dampfer in Dienst gestellt werden sollten. Vermutlich wurde das Heft zu einem Zeitpunkt gedruckt, als sich noch niemand auf ein Datum festlegen wollte. Am eigentlichen Tag des Stapellaufs publizierte die White Star Line für die nicht anwesende amerikanische Presse eine Pressemitteilung. Es wurden in erster Linie alle Superlative aufgezählt und Grössenvergleiche angestellt. Zum Schluss war zu lesen:

„Die ‚Olympic’ wird ab dem nächsten Sommer im Postdienst der White Star Line zwischen New York, Plymouth, Cherbourg und Southampton eingesetzt, gefolgt von der Titanic im Frühherbst.“

Dies zeigt deutlich, dass sowohl die White Star Line wie auch Harland & Wolff immer noch daran glaubten, dass die 13 Wochen Rückstand der Titanic noch aufgeholt werden können. Die Planung sah immer noch vor, dass die Titanic drei Monate nach der Jungfernfahrt der Olympic (Juni 1911) in Dienst gestellt würde, irgendwann im September 1911. Unklar ist, woher dieser Optimismus kam. Die einfachste Erklärung wäre, dass man glaubte, nach der Fertigstellung der Olympic im Mai 1911 mit der doppelten Manpower an der Titanic weiter arbeiten zu können.

Zwölf Tage später, am 1. November 1910, veröffentlichte das New Yorker White Star Büro ein Poster, auf dem sowohl die Olympic wie auch die Titanic als „in Kommission 1911“ geführt wurden. Doch dieser Optimismus war nicht von langer Dauer und nach 10 Wochen gänzlich verflogen. Am 11. Januar 1911 publizierte die White Star Line ihren Fahrplan für 1911. Zu lesen war in geschmückten Worten, dass dem „Neuen Super-Dreischrauben-Meeresgiganten Olympic das Schwesternschiff Titanic folgt, das jetzt in Belfast gebaut wird.“ Die Jungfernfahrt der Olympic war auf den 14. Juni 1911 vorgesehen. Geplant waren neun Hin- und Rückfahrten bis Ende 1911. Nirgends war zu lesen, dass die Titanic im September oder zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Jahr in Dienst gestellt wird.

Nachforschungen zeigen, dass die Bestellbücher von Harland & Wolff eine gleichmässige Auftragslage auswiesen und es somit während der Fertigstellung der Titanic keine grösseren Belastungen gab. Auch das Klima war kein Problem, technisch wäre ein Stapellauf im Winter möglich gewesen. Was könnte der Grund dafür gewesen sein, dass die Titanic erst im Mai 1911 vom Stapel lief?

Die Tabelle zeigt, dass mit Ausnahme des Doppelbodens alle wichtigen Bauschritte bei der Titanic mehr Zeit beanspruchten als bei der Olympic. Dies überrascht, basierte doch jeder Handgriff auf der Erfahrung der Olympic und hätte somit schneller erfolgen müssen. Wir müssen also davon ausgehen, dass sowohl die Reederei wie auch die Werft zu optimistisch waren mit ihren Bauplänen. Um das Gesicht zu wahren fokussierte man die Arbeit auf die Olympic, um zumindest eines der Schiffe fertig zu stellen. Aber auch nach der Übergabe der Olympic dauerten die Arbeiten an der Titanic länger, dies wäre auch ohne die Olympic-Reparatur der Fall gewesen. Nach deren Kollision mit der Hawke kehrte die Olympic für fast sieben Wochen nach Belfast zurück. Selbst wenn die Arbeiten an der Titanic während diesen sieben Wochen ruhten, wuchs der Rückstand weiter, nicht um sieben, sondern um weitere zwölf Wochen.

Der Entscheid die Arbeiten der Olympic voranzutreiben wurde im November oder Dezember 1910 gefällt. Während die White Star Line sich so optimistisch zeigte mit der Fertigstellung der Schiffe, darf man vermuten, dass Harland & Wolff die Wahrheit nur zögerlich ihren Auftraggebern eingestand. Erst nach dem Stapellauf der Olympic – so scheint es – sprach man Klartext miteinander. Aber es erscheint absurd, dass sich der Rückstand der Titanic weiter vergrösserte, nachdem die Olympic Belfast verlassen hatte. Die Aufgabe bestand doch nur darin, mehr oder weniger eine Kopie der Olympic herzustellen.

Eines Tages kommen möglicherweise die endgültigen Antworten ans Licht. Bis dahin können wir nur spekulieren. Um den Lesern etwas „Denkfutter“ zu geben folgt hier eine Liste möglicher Szenarien, die durchaus Grund für die späte Lieferung der Titanic gewesen sein könnten:

  • Die White Star Line befand sich in einer äusserst unkomfortablen finanziellen Situation und es standen weitere schwere Zeiten bevor. Die Reederei nahm für den Bau der Olympic und Titanic die erste öffentliche Anleihe der Firmengeschichte auf, welche durch die hypothekarische Eintragung der ganzen Flotte gesichert wurde. Die White Star Line hatte Ende 1910 aber nur die Hälfte des Budgets für die Olympic und Titanic auf dem Konto. Der Betrag von 1.198.583 Pfund harrte der Konsolidierung als Akzept- und offene Anleihe-Schuld. Selbst nach der langen Partnerschaft verlor möglicherweise Harland & Wolff das Vertrauen in die White Star Line und deren Mutterfirma I.M.M. Vielleicht realisierte die Werft, wie riskant dieses Geschäft war und konzentrierte sich auf finanziell gesicherte Aufträge.
  • Durch die Reduktion der Anzahl Schiffe im Southampton-New York-Dienst von vier auf drei im August 1911 reduzierte die White Star Line drastisch ihre Kosten. Doch der Einsatz der Titanic hätte diese Einsparungen durch erhöhte Kosten (z.B. mehr Crewmitglieder, grösserer Kohlenverbrauch) sofort wieder verschlungen. Möglicherweise war es billiger, in der finanziell kritischen Phase die Titanic für den Winter in Belfast „einzumotten“, statt die höheren operationellen Kosten in Kauf zu nehmen.
  • Die Konkurrenz auf dem Nordatlantik und schlechte Umsätze seit 1908 drängten die grossen Gesellschaften dazu, enger zusammen zu arbeiten. An der „Atlantic Conference“ von 1911 mussten dringend Entscheidungen getroffen werden. Alleine im ersten Halbjahr von 1911 sank die Zahl der Auswanderer um über 140.000 gegenüber 1910. Insbesondere die Zahl der Auswanderer vom europäischen Festland ging zurück. Dies bedeutete Kompensationszahlungen von 55.140 Pfund der britischen Reedereien an die kontinentalen. Die Engländer waren dringend auf die Anpassung der bestehenden Verträge angewiesen. Bis dahin mussten sie für jeden Auswanderer über ihrem Anteil Strafe zahlen. Die enorme Kapazität der Titanic wäre nicht auszuschöpfen gewesen, sie wäre bei guter Auslastung zur Bürde der White Star Line geworden.
  • Die Schiffe der Olympic-Class waren die erste Innovation der White Star Line seit der Übernahme durch die amerikanischen Eigentümer. Diese waren Neulinge im Geschäft mit Schiffen und so brauchte es wohl Überzeugungsarbeit seitens der White Star Line. Es galt aufzuzeigen, dass eine verspätete Inbetriebnahme sowohl finanziell wie auch operationell sinnvoll war.
  • Die White Star Line und Harland & Wolff haben vielleicht erkannt, dass die grosse Hast, mit der die Olympic fertiggestellt wurde, zu Kompromissen geführt hat, die man bei der Titanic verhindern wollte. Nur durch die Verlangsamung des Baus konnten bei der Titanic mancherorts bessere Resultate erzielt werden.
  • Für den Bau der Olympic-Class-Schiffe setzte Harland & Wolff den Grossteil ihrer Arbeiter und Werkanlagen ein. Die Werft war bekannt dafür ein sozialer Arbeitgeber zu sein. Um nicht nach dem Bau der Olympic und Titanic Tausende Arbeiter auf die Strasse zu stellen, wollte die Werft vielleicht nahtlos zum Auftrag der Britannic übergehen, da keine andere grosse Schiffe in den Auftragsbüchern zu finden waren.

Der Entscheid, die Titanic zu verspäten, wirft einige „Was wäre, wenn…“-Fragen auf. Wir stellen fest, dass die Titanic bis im April 1912 mit etwa zehn Rundfahrten bereits ein wintererprobtes Schiff sein sollte. Wie und ob die Entscheidung der späteren Fertigstellung das Schicksal der Titanic mitbestimmt hat, ist hypothetisch. Die Gründe für die Verspätung drängen auf eine seriöse Untersuchung, die vielleicht aus Mangel an Beweisen nie abgeschlossen werden kann, und so wäre die Gewichtung der obigen Denkanstösse der einzige Weg zur Wahrheit.

(Mein Dank geht an Kay Linnecker für seinen Input)

© Günter Bäbler, 2005
Erstveröffentlichung: Titanic-Verein Schweiz, Titanic Post Nr. 52