Lichter in der Nacht – die Titanic und das Geisterschiff

von Susanne Störmer

Zuerst schien es unglaublich: In Sichtweite der sinkenden Titanic soll sich ein anderes Schiff aufgehalten haben, das, anstatt Hilfe zu leisten, davon gefahren ist. Es war eine Aussage vom 4. Offizier Boxhall vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss, durch die diese mysteriöse Geschichte in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geriet. Nachdem allen klar wurde, dass Boxhall es ernst meinte mit seiner Aussage, begann die Suche nach dem „Geisterschiff“ (im Englischen als „mystery steamer“ bezeichnet). Bis heute gibt es keine über alle Zweifel erhabene Identifizierung dieses Schiffes.

Im ersten Schritt sollen die Beobachtungen von der Titanic zusammengetragen werden. Wichtigster Zeuge ist hier der bereits erwähnte Boxhall, dessen Angaben den Stein ins Rollen brachten. Von entscheidender Bedeutung ist, wann er zuerst die Lichter eines anderen Schiffes gesehen hat. In seinen Aussagen berichtet er davon, dass er aus dem Funkraum zurück an Deck ging, als er die Lichter des anderen Schiffes sah – er hatte den Funkern die überarbeitete Notrufposition, die berühmten Koordinaten 41° 46′ Nord, 50° 14′ West, gebracht. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem die Titanic erstmals diese Koordinaten sendete, muss Boxhall also die Lichter des anderen Schiffes gesehen haben. Laut Funklog war das um 22:35 Uhr New York Zeit – um die Schiffszeit Titanic davon ableiten zu können, muss natürlich die Zeitdifferenz zwischen New York Zeit und Schiffszeit Titanic bekannt sein. Allerdings ist für diese Betrachtung ein anderer Aspekt bedeutend wichtiger: Boxhall, der seit 20 Uhr Schiffszeit Titanic auf Wache war, hat die Lichter des anderen Schiffes erst einige Zeit nach der Kollision mit dem Eisberg gesehen. Das bedeutet, dass entweder Boxhall zuvor mit Blindheit geschlagen gewesen sein muss oder aber dieses Schiff war in Fahrt und war erst nach der Kollision überhaupt in Sichtweite der Titanic gekommen. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn im ersten Fall könnte es ein abgestopptes Schiff gewesen sein, während im zweiten Fall das andere Schiff in Fahrt gewesen sein muss.

Nachdem Boxhall die Lichter des anderen Schiffs gesehen hat, hat er den Kapitän davon in Kenntnis gesetzt und hat sich danach damit beschäftigt, Notraketen abzufeuern und das andere Schiff zu beobachten. Durch das Abfeuern der Notraketen sollte Hilfe herbeigeholt werden – und natürlich hoffte man dabei darauf, dass das andere Schiff in Sichtweite zur Titanic kommen würde.

In seinen Aussagen schätzte Boxhall die Entfernung des anderen Schiffes auf fünf Seemeilen, vielleicht auch mehr, da er davon ausging, dass das andere Schiff sehr gute Lichter hatte. Boxhall beobachtete das andere Schiff mit einem Fernglas und sah, wie dieses Schiff sich langsam näherte, dann aber abdrehte (Boxhall vermutete, sie sei ins Eis geraten) und davon fuhr. Für die These, dass das Geisterschiff in Fahrt war, spricht auch, dass Fleet und Lee im Ausguck bis zu ihrer Ablösung um Mitternacht Bordzeit kein anderes Schiff gesehen haben. Ihr Posten war noch mal höher als die Brücke und das Bootsdeck, von wo aus Boxhall die Lichter das erste Mal gesehen hat, und zudem war die Titanic schon einige Zeit abgestoppt, so dass der Ausguck im Krähennest auch nicht mehr durch den Fahrtwind behindert wurde.

Auch andere Menschen auf der Titanic sahen das andere Schiff – dieses Licht machte vielen Menschen Hoffnung, dass bald Hilfe bei ihnen sein würde. Und die Besatzung der Titanic wies auch immer wieder auf diese Lichter und beruhigte so ängstliche Passagiere. Kapitän Smith gab sogar den Booten 6 und 8 die Anweisung, zu dem anderen Schiff zu rudern, die Passagiere dort abzuladen, dann zurückzukehren und weitere Menschen aufzunehmen. Smith muss also davon ausgegangen sein, dass das andere Schiff recht nahe war. Aber weder Boot 6 noch Boot 8 erreichten jemals das andere Schiff, und die Entfernung schien sich auch nicht zu verringern.

Aus anderen Booten wird berichtet, dass das Licht des anderen Schiffes verschwand. Das passt zu den Beobachtungen, die vom höher gelegenen Bootsdeck gemacht wurden, dass das andere Schiff kurz bevor Boxhall die Titanic in Boot 2 verließ, der Titanic die Hecklaterne zeigte – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es gewendet hatte und nun davon fuhr. Es hat also nicht auf die Notsignale der Titanic reagiert.

Ebenfalls auffällig ist, dass außer den vergeblichen Versuchen der Boote 6 und 8 abgesehen kein anderes Rettungsboot auf die Lichter des anderen Schiffes zugerudert ist. Man hat sich vielmehr an den Leuchtkugeln Boxhalls orientiert und dann, als sie vom Südosten her herangeprescht kam, auf die Carpathia zugehalten. Wäre nach dem Untergang der Titanic noch ein anderes Schiff in Sicht gewesen: Wäre es da nicht zu erwarten gewesen, dass die Boote versuchten, dieses Licht zu erreichen? Immerhin war es eine eisig kalte Nacht, und ein Schiff versprach mehr Schutz als ein offenes Rettungsboot. Warum weiter im Eisfeld treiben, wenn ganz in der Nähe ein Schiff ist? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, dieses Schiff zu erreichen, wenn es denn in Sichtweite war?

Da anfangs die Lichter des unbekannten Schiffes auch von den Rettungsbooten aus gesehen wurden, nach dem Untergang der Titanic aber nicht mehr, gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten:

1.) Das andere Schiff ist, wie von diversen Zeugen beobachtet, davon gefahren.

2.) Durch eine Änderung der Lufttemperatur hat sich der Feuchtigkeitsgehalt der Luft verändert und die Sicht verschlechtert, so dass das andere Schiff zwar noch in der Nähe lag, aber von den Rettungsbooten aus nicht mehr gesehen werden konnte.

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch von Bedeutung, dass niemand der Überlebenden davon berichtet, am Morgen, als die Carpathia in Sicht war, ein zweites Schiff wahrgenommen zu haben. Wenn bei Tagesanbruch noch ein anderes Schiff in Sichtweite der Rettungsboote gewesen wäre, wäre es durchaus denkbar gewesen, dass ein oder zwei Rettungsboote sich für dieses Schiff entschieden hätten und nicht in Richtung Carpathia gerudert wären.

Eine gute Beschreibung des anderen Schiffes gibt es von Boxhall, der dieses Schiff durch ein Fernglas beobachtet hat. Er hielt es für einen Dampfer mit drei oder vier Masten, was dafür spricht, dass es eine gewisse Größe gehabt hat. Andere Überlebende, die das Schiff mit bloßem Auge gesehen haben, hielten es für ein Segelschiff oder einen Fischkutter, aber gegen das Segelschiff spricht, dass Boxhall eine Lichterführung erkannt hat, wie man sie nur an Dampfern findet.

Wer schon mal nachts auf See war und ein anderes Schiff gesehen hat, wird wissen, dass man ab einer gewissen Entfernung außer den Lichtern nichts mehr sieht. Deswegen gibt es Gesetze, die genau vorschreiben, welche Lichter in welcher Farbe von welchem Schiff an welcher Stelle geführt werden müssen, so dass ein Beobachter anhand der Lichter erkennen kann, mit welchem Schiffstyp er es zu tun hat (wichtig für die Vorfahrtsregeln, so müssen z. B. Maschinenschiffe immer den Schiffen ausweichen, die ausschließlich mit Segeln angetrieben werden). Das Mastlicht (auch Dampferlaterne oder Topplicht genannt) und die Hecklaterne sind weiß und strahlen zusammen 360° aus, sind aber niemals zusammen sichtbar, da die Hecklaterne 135° strahlt – von genau achteraus jeweils 67,5° zu jeder Seite – und das Mastlicht 225° – von direkt voraus bis jeweils 22,5° achterlicher als querab. Wenn ich eine Hecklaterne sehe, dann kann ich unter keinen Umständen das Topplicht erkennen und damit ist schon mal klar, dass das andere Schiff mir sein Heck zuwendet. Das Topplicht dürfen nur Schiffe führen, die mit Maschinenantrieb fahren. Ein Segelschiff hat damit niemals das Topplicht oder eben auch Dampferlicht – es sei denn, dieses Segelschiff ist neben Segeln auch mit einem Maschinenantrieb ausgestattet. Sobald es die Maschine in Betrieb nimmt, gilt es als Maschinenschiff und muss dementsprechend auch das Topplicht bzw. die Dampferlaterne führen.

Ebenfalls zur Lichterführung gehören die Seitenlichter bzw. Positionslaternen. Sie müssen wie die Hecklaterne von allen Schiffen bei Dunkelheit, in der Nacht und bei schlechter Sicht geführt werden. Die Positionslaternen gibt es in zwei Farben – rot ist für backbord und grün ist für steuerbord. Jedes Licht muss 112,5° sichtbar sein, und zwar an jeder Seite bis 22,5° achterlichter als querab. (Und wer mitgerechnet hat: 112,5° + 112,5° = 225° + 135° (für die Hecklaterne) = 360° => ein vollständiger Kreis.)

Wenn ich also die Dampferlaterne und beide Positionslichter sehe, zeigt mir das andere Schiff seinen Bug und ich sehe auch, dass es mit Maschinenantrieb fährt. Beide Positionslaternen ohne Dampferlaterne zeigen mir an, dass das andere Schiff ohne Maschinenantrieb in Fahrt ist. Ein Schiff ist übrigens immer dann in Fahrt, wenn es nicht vor Anker oder im Hafen liegt oder auf Grund sitzt. Wenn also ein Schiff auf hoher See abstoppt und sich einfach nur treiben lässt, ist es in Fahrt und muss diese Lichter führen.

Diese Vorschriften der Lichterführung haben Boxhall damals auf der Titanic in die Lage versetzt zu beurteilen, in welche Richtung der Bug des Schiffes, das er einige Zeit nach der Kollision vom Bootsdeck aus entdeckt hat, zeigte. Da Boxhall zudem die Veränderung in den gezeigten Lichtern beobachtet hat, bis er zum Schluss nur noch die Hecklaterne gesehen hat, hat er daraus geschlossen, dass das andere Schiff sich bewegt hat – und sich von der sinkenden Titanic entfernt hat.

Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle, dass es auch Augenzeugen gab, die dieses andere Licht für einen Stern gehalten haben. Allerdings ist zu beachten, dass die Sterne niemals bis ganz zum Horizont herunter sichtbar sind, sondern ein Stück über den Horizont zu verschwinden scheinen. Boxhall, der das andere Schiff über einen längeren Zeitraum durch ein Fernglas beobachtet hat, war sich zudem ganz sicher, dass die Lichter, die er sah, zu einem sich bewegenden Dampfer gehörten, der, anstatt der Titanic zu Hilfe zu kommen, einfach davon fuhr und die Menschen auf dem Luxusliner ihrem Schicksal überließ.

© Susanne Störmer, 2009

Erstveröffentlichung: Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V., Der Navigator, Nr. 1, 13. Jahrgang (Mai 2009)

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